Zwischen Pergament und Pixeln: Ein Abend voller Geschichte

Der Lange Abend der Wittener Stadtgeschichte zeigte, wie lebendig Vergangenheit sein kann – wenn man sie mit offenen Augen, offenen Archiven und offenen Herzen betrachtet.

Eine Stadt entdeckt sich neu

Es ist ein kühler Samstagabend Ende September (27.9.), einer jener Abende, an denen der Herbst schon den Atem des Winters ahnen lässt. Über dem Vorplatz des Wittener Saalbaus laufen Menschen mit gesenktem Blick und erhobenen Smartphones Linien auf dem Bildschirm hinterher, umrunden Skulpturen, bleiben stehen, lachen, drehen sich im Kreis.

Was wie eine Mischung aus Tanzprobe, Stadtführung und Rätselrallye wirkt, ist Teil eines Experiments: „Der Lange Abend der Wittener Stadtgeschichte“, eine neue Veranstaltungsreihe des Stadtarchivs, feiert Premiere. Dr. Thomas Urban, seit wenigen Monaten Leiter des Archivs, hat große Pläne: „Wir wollen Geschichte nicht nur zeigen, wir wollen sie begehbar, erlebbar und überraschend machen. Unser Ziel ist es, weniger bekannte Orte und Themen sichtbar zu machen.“

Das Konzept: ein Stadtabend voller Entdeckungen, an dem Archive, Vereine und Museen ihre Türen öffnen, Kunstaktionen den öffentlichen Raum verwandeln und Führungen neue Perspektiven auf vermeintlich bekannte Orte eröffnen.

Geschichte zum Mitmachen

Die ungewöhnlichste dieser Aktionen spielt sich gleich zu Beginn auf dem Platz vor dem Saalbau ab. Die Künstlerin Julie hat hier ein Spiel entwickelt, das sie „Tunnel-Bingo“ nennt – eine poetische Mischung aus Tanz, Stadtplan und Historie. „Die Idee entstand, als ich neu nach Witten gezogen bin“, erzählt sie. „Ich wollte mir die Stadt aneignen, sie zu meinem Wohnzimmer machen.“

Die Spielerinnen und Spieler folgen digitalen Linien, die an alte Tanzchoreografien erinnern – einst für königliche Ballabende komponiert, heute neu gedacht für den Stadtraum. Doch die Choreografien sind nur teilweise überliefert, die genauen Schritte verloren gegangen. „Wir wissen nur, wie sich die Tänze durch den Raum bewegt haben“, erklärt Julie.

Das macht das Spiel zu einer Herausforderung. „Ich finde es schwierig, auf der Linie zu bleiben und gleichzeitig zu gucken, wo meine Partnerin ist“, sagt Manta Mayer, die lachend vor einer fünf Meter hohen Edelstahlskulptur aus dem Tritt gerät. Die Linie auf ihrem Smartphone führt mitten durch das Kunstwerk – ein Problem, das nur durch kreative Umwege zu lösen ist.

Manche geben frustriert auf, andere finden ihren eigenen Weg. „Ich bin zwar ganz verworren gelaufen, aber ich habe ein Bingo gekriegt“, jubelt Katie Glathe. Die Performance ist ebenso Spiel wie Sinnbild: Geschichte lässt sich nicht immer gradlinig nachvollziehen. Sie verlangt Umwege, Interpretationen – und manchmal ein bisschen Fantasie.

Fragen an eine Stadt

Nur wenige Meter weiter hat sich der Platz in eine improvisierte Gesprächsbühne verwandelt. Unter dem Titel „Fragen über Fragen“ spricht das Ensemble X mit Passanten über ihre Stadt. Keine Geschichtszahlen, keine Datenabfragen – es geht um Gefühle, Erinnerungen, persönliche Bezüge.

„Wenn Witten ein Mensch wäre, welches Geschlecht hätte es?“, fragt eine junge Frau. „Wo würde sich sein Herz befinden?“

Die Antworten sind so vielfältig wie die Menschen selbst: Für die einen ist Witten ein alter Freund, für andere eine launische Bekannte oder eine unzuverlässige Geliebte. Einige sprechen mit leuchtenden Augen über Lieblingsplätze, andere klagen über Leerstände und Baustellen. „Wir wollen, wollen erfahren wie die Menschen ihre Stadt betrachten“, sagt Ensemble-Mitglied Beáta Nagy. Die Gespräche werden nicht aufgezeichnet, sondern „im Kopf gespeichert“, wie es Nina Gilfert ausdrückt. Sie dienen als Inspiration für künftige Performances – und zeigen, dass Stadtgeschichte immer auch Stadtgegenwart ist.

In den Katakomben der Erinnerung

Später am Abend führt der Weg zur Husemannstraße, wo sich hinter einer unscheinbaren Tür die Schatzkammer des Vereins für Orts- und Heimatkunde in der Grafschaft Mark (VOHM) verbirgt. Prof. Dr. Hiram Kümper, Historiker und Vereinsvorsitzender, öffnet mit einem Lächeln die schweren Türen.

In meterhohen Metallschränken lagern hier Jahrhunderte Stadtgeschichte: Chroniken, Briefe, Pläne, Bücher – einige aus dem 16. Jahrhundert. Kümper zieht vorsichtig ein ledergebundenes Werk von Johannes Sleidanus’ hervor. Doch die eigentlichen Schätze sind die Dokumente, die Witten unmittelbar betreffen. Eine Pergamenturkunde mit dem kaiserlichen Siegel von 1753 etwa, mit der Kaiser Franz den Herren von Haus Berge die Gerichtsbarkeit verlieh. Oder ein Schutzbrief des Feldherrn Tilly aus dem Dreißigjährigen Krieg, der der Stadt zusicherte, nicht niedergebrannt zu werden. „Hier sieht man, dass Weltgeschichte auch in Witten passiert ist“, sagt Kümper und lässt seine Finger über die jahrhundertealte Tierhaut gleiten.

Heimat im Detail

Der Abend endet dort, wo viele dieser Geschichten zusammenlaufen: im Haus Witten, wo sich Heimat- und Geschichtsvereine präsentieren. Zwischen Stellwänden mit alten Fotografien und Tischen voller Bücher erzählen Vereinsmitglieder von ihrer Arbeit.

„Wir zeigen, wie sich Bommern in den letzten 150 Jahren verändert hat“, sagt Klaus Wiegand, Vorsitzender des Heimat- und Geschichtsvereins Bommern. Neben Ausstellungen organisiert sein Verein Fahrten, Vorträge und gibt einen beliebten Jahreskalender heraus. „Die Nachfrage ist da, aber das Programm heute war vielleicht etwas zu dicht. Man könnte die Themen beim nächsten Mal besser voneinander trennen.“

Trotzdem ist die Stimmung optimistisch. Viele Besucher bleiben lange, stellen Fragen, blättern in Broschüren, lauschen historischen Vorträgen oder genießen Konzerte im Abschlussprogramm.

Ein Anfang – kein Abschluss

Als sich die Türen schließlich schließen und die Nacht über der Stadt liegt, ist klar: Der erste „Lange Abend der Wittener Stadtgeschichte“ war mehr als nur eine Veranstaltung. Er war eine Einladung – zum Staunen, Mitmachen, Diskutieren, Fühlen.

„Vielleicht wird daraus eine Reihe“, hofft Archivleiter Dr. Urban. „Die Resonanz zeigt, dass das Interesse groß ist. Es gibt so viele unbekannte Geschichten zu erzählen.“

Und tatsächlich: Wer an diesem Abend durch Witten ging, hat nicht nur Geschichte gesehen – sondern erlebt, dass sie überall lauert. In alten Büchern und digitalen Spielen, in Gesprächen über Identität und Heimat, in Pergamenturkunden und Smartphone-Displays. Geschichte ist nicht vorbei. Sie ist hier. Sie passiert – und sie passiert mitten in Witten.

Podcast-Tipp: Stadtgeschichte für die Ohren

Wer den Langen Abend der Stadtgeschichte verpasst hat – oder einfach nicht genug von Wittener Vergangenheit bekommt –, kann sich das historische Stadtgefühl auch nach Hause holen: Im Breddeviertel Podcast nehmen Kerstin Glathe und Ralph Klein ihre Hörerinnen und Hörer mit auf einen akustischen Spaziergang durch die Wittener Innenstadt.

Folge für Folge erzählen sie die Geschichte der Stadt an historisch bedeutenden Orten, beleuchten spannende Details und schlagen in der aktuellen Staffel den Bogen zur Gegenwart. So lässt sich Stadtgeschichte auch an langen Winterabenden erleben – ganz bequem im eigenen Wohnzimmer, mit Kopfhörern auf den Ohren und Witten im Kopf.